Hintergrund zum Anfangspunkt der Menschenkette in Heilbronn
Durch die Wahl dieser Orte drücken wir aus, dass wir die Erinnerung an die schreckliche Vergangenheit wach halten müssen. Und dass wir in der Gegenwart Verantwortung dafür tragen, dass intolerante und rassistische Propaganda, sowie darauf basierende Vergehen und Verbrechen, in unserer Gesellschaft keinen Platz haben und von dieser nicht geduldet werden.
Die „Zentrale Stelle“ in Ludwigsburg: Wenigstens Aufklärung für NS-Morde
Schon 13 Jahre waren vergangen, seit die Nazis von den Armeen der USA, Englands, Frankreichs und Russlands besiegt worden waren. Viel zu viele der Verbrechen, die aus der Nazi-Ideologie heraus begangen worden waren, hatte noch niemand aufgeklärt oder gar vor Gericht gebracht. Rund zwölf Millionen Menschen waren ermordet worden, weil sie den Nazis nicht passten – wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Meinung, wegen körperlicher oder seelischer Eigenschaften oder wegen ihrer sexuellen Orientierung.
Die Justiz der Bundesrepublik war durchsetzt mit ehemaligen Nazis. NS-Verbrechen wurden kaum verfolgt. Und wenn doch, waren die Urteile oft extrem milde und mitfühlend. Eine kleine Gruppe aufrechter Juristen und viel Druck aus dem Ausland erreichten, dass eine eigene Ermittlungsstelle geschaffen wurde: Eine „zentrale“ Stelle sollte es sein, weil die Verbrechen der Nazis mit den Justiz-Strukturen der neu geschaffenen Bundesländer nicht zu fassen waren.
Viele NS-Verbrechen waren bereits verjährt, zu bewältigen blieben überwiegend die massenhaften, oft mit industrieller Brutalität ausgeführten Morde, zu denen das NS-System viele seiner Opfer in besetzte Gebiete in Osteuropa verschleppt hatte. Die Arbeit der kleinen „Zentralen Stelle“ unterstützte eine gesellschaftliche und politische Diskussion, an deren Ende stand, dass die Verjährung für Morde in der Bundesrepublik abgeschafft wurde.
Darum ermittelt die „Zentrale Stelle“ auch 2013 noch. Darum werden noch immer alte Männer vor Gericht gestellt und womöglich verurteilt. Viel zu spät, aber immer noch notwendig. Die juristischen Erfolge der „Zentralen Stelle“ sind ohnehin überschaubar: Wenige hundert Urteile gab es aufgrund ihrer Ermittlungen. Zu viel Zeit war schon vergangen, zu viele juristische Fehler wurden bei ihrer Einrichtung und in der Folgezeit zugelassen.
Die Bedeutung der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen ist innerhalb der Justiz und erst recht außerhalb dennoch groß: Die hier geleistete Arbeit zeigt die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, sich mit den Taten der Nazis auseinanderzusetzen, die Täter zu ermitteln, die Ursachen zu festzustellen und daraus Lehren zu ziehen – für eine moderne Gesellschaft im Zeichen der universellen Menschenrechte.
1966 zog die „Zentrale Stelle“ in ein umgebautes ehemaliges Amtsgefängnis in der Schorndorfer Straße 58 ein, als klar wurde, dass sie noch für viele Jahre würde arbeiten müssen. Inzwischen bereitet dort eine Außenstelle des Bundesarchivs die Akten der Juristinnen und Juristen auf und bietet Schülerinnen und Schülern auch ein hochwertiges archivpädagogisches Programm. Ebenso ist eine Forschungsstelle der Universität Stuttgart im Haus, die Grundlagenforschung zur Entstehung der NS-Verbrechen betreibt. Und der „Förderverein Zentrale Stelle“ sieht sich als ein weiteres Bindeglied zur Öffentlichkeit, damit an diesem weltweit anerkannten Ort der Rechtsgeschichte das Wissen über Nazi-Morde in aktuelle Diskussionen kommt und zu vernünftigem und beherztem verantwortlichem Handeln beiträgt.
Jochen Faber
Der Bietigheimer Bahnhof – eine Drehscheibe im Nazi-System
Insgesamt 8,4 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten aus besetzten Ländern wurden als Arbeitssklaven nach Deutschland gebracht (1) ; die allermeisten unter brutalem Zwang. Sie dürfen neben den zur Zwangsarbeit gezwungenen Gefangenen in Konzentrationslagern und den als Arbeiter ausgebeuteten Kriegsgefangenen nicht vergessen werden. Der Nazi-Staat war gierig nach Arbeitskräften, während er Millionen von Männern in den mörderischen Krieg schickte. Bietigheim war der hauptsächliche Verteilungsort für zivile Zwangsarbeiter in Süddeutschland.(2)
Etwa 200 Meter südlich des Bahnhofs (heute: Gewerbegebiet „Laiern“) war ein „Durchgangslager“ angelegt worden, durch das von 1942 bis 1945 rund 200.000 Männer, Frauen und Kinder geschleust wurden (3) : Antransportiert mit Viehwaggons per Bahn, mehr oder weniger erfolgreich gewaschen und desinfiziert, flüchtig medizinisch untersucht, registriert, die Kleider entlaust, im Normalfall nach zwei bis vier Tagen wegtransportiert zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie oder der Landwirtschaft, aber auch in vielen anderen Firmen und Verwaltungen. (4)
Die Historikerin Christine Axmann nennt drei Gründe, warum gerade Bietigheim der Standort für dieses Lager wurde: Die Stadt war als Eisenbahnknotenpunkt gut erreichbar, das Grundstück beim Bahnhof war unbebaut und hatte kaum Nachbarn, und Bietigheims Bürgermeister Gotthilf Holzwarth, linientreuer Nazi mit Verwaltungsausbildung bei der Reichsbahn, unterstützte das Vorhaben gemeinsam Vertretern der örtlichen Wirtschaft. Sie erhofften sich – zurecht – eine bevorzugte Zuteilung von Zwangsarbeitern.
Das Bietigheimer Durchgangslager war für bis zu 1.200 Menschen angelegt, doch mehrfach waren dort viel mehr Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter eingesperrt, bis zu 3.700 Menschen auf einmal. Die Anlage mit 32 Baracken auf etwa 150 auf 200 Meter Fläche wurde später um rund ein Drittel erweitert; etwa 50 Baracken standen dann dort. (5)
Das Durchgangslager darf trotz Stacheldraht-Zaun nicht mit einem Lager für Kriegsgefangene oder gar einem Konzentrationslager verwechselt werden – diese waren weit strenger abgeriegelt und bewacht. Allerdings waren fast alle zivilen „ausländischen Arbeitskräfte“ unter völlig unwürdigen Bedingungen und teils sehr brutal in deutschen Dienst gezwungen worden und wurden hier schlecht, vielfach menschenverachtend behandelt, obwohl man ja eigentlich gute Arbeitsleistungen von ihnen wollte. Verpflegung und sanitäre Anlagen wurden von Zeitzeugen als katastrophal beschrieben.
Ein 20jähriger Zwangsarbeiter, der in der Kammgarnspinnerei für Daimler-Benz arbeiten musste, wurde im Juni 1944 im Durchgangslager erhängt, weil er ein paar Schuhe gestohlen und einen Polizisten überwältigt hatte. Bürgermeister Holzwarth und die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wollten durch die öffentliche Hinrichtung möglichst viele Zwangsarbeiter einschüchtern.
Die Krankenstation war für die Lagerleitung ein besonderes Problem: Ansteckungsgefahr und Hoffnungslosigkeit breiteten sich von ihr aus, erst recht, als nach einem Defekt in der Entlausungs-Anlage Gefangene starben. 50 Tote wurden in den ersten Monaten im Wald hinter dem Lager begraben. Schon bald wurden viele Kranke in gesonderte Lager in Pleidelsheim und Großsachsenheim gebracht. Dort wurden auch Zwangsabtreibungen vorgenommen. Wenn Kinder zur Welt kamen, wurden sie von den deutschen Betreibern so schlecht versorgt, dass viele Säuglinge starben – von mehr als 50 toten Kindern berichtet Christine Axmann.
In gewissem Umfang wurde das Bietigheimer Lager in den letzten Monaten des Nazi-Regimes auch als Sammelstelle für Menschen verwendet, die anschließend in Konzentrationslager deportiert wurden: In einzelnen Berichten wird ein Transport erwähnt, der im November 1944 jüdische Württemberger von Bietigheim aus deportierte. Einem Hinweis zufolge war Zwangsarbeit beim Konzentrationslager Dora-Mittelbau in Thüringen das Ziel dieser Fahrt. (6) Möglich scheint, dass dieser Transport zur 7. SS-Eisenbahnbaubrigade gehörte, einem von insgesamt acht „Konzentrationslagern auf Schienen“, die bis zum Ende der Nazi-Diktatur bestanden. (7)
Eindeutig belegt ist: Im Januar 1945 verschickte die „Geheime Staatspolizei / Staatspolizeistelle Stuttgart“ an württembergische Landratsämter einen Erlass „betr. geschlossener Arbeitseinsatz der jüdischen Teile aus Mischehen. Vermerk: Eilt sehr!“ (8) Darin wurde vorgeschrieben, dass die betreffenden Menschen sich „im Laufe des Montag, 12. Februar 1945, im Durchgangslager Bietigheim, Krs. Ludwigsburg, einzufinden“ hätten. Das „Theresienstädter Gedenkbuch“ (9) nennt für diesen Zwangstransport 58 Passagiere zwischen 13 und 61 Jahren: Die 23 Frauen und 35 Männer konnten demnach alle lebend befreit werden, als am 8. Mai 1945 die russische Armee das KZ erreichte. Auch verschiedene andere Veröffentlichung belegen dies (10). Ein Bericht der Ludwigsburger Kreiszeitung vom Januar 2009 beschreibt, dass 64 Jahre nach ihrer Befreiung zwei der Männer im Landkreis Ludwigsburg lebten. (11)
Einmal wurde das Durchgangslager auch als Zwischenstation für KZ-Gefangene genutzt: Mitte August 1944 kamen rund 2.200 jüdische Männer aus Auschwitz hier an; auch sie sollten gewaschen und ihre Kleider entlaust werden. Sie waren etwa eine Woche lang mit dem Zug nach Westen transportiert worden und sollten in einem Steinbruch in Vaihingen/Enz („KZ Wiesengrund“) eine mehrstöckige unterirdische Fabrik für die Flugzeugwerke Messerschmitt AG bauen. Die Zeugenaussagen über Methode und Erfolg der Entlausungs-Aktion sind uneinheitlich. Sicher scheint aber, dass Gefangene von SS-Männern, die den Zug begleiteten, stark misshandelt wurden. Über 1.500 dieser KZ-Häftlinge aus Polen, Russland, Holland und Deutschland starben in Vaihingen oder in den Lagern, in die sie nach dem Abbruch des unterirdischen Bauvorhabens nach einigen Wochen verschleppt worden waren, unter extrem erbärmlichen Bedingungen; weitere starben in der Folgezeit. (12)
Jochen Faber
(1) Bundesarchiv: Zwangsarbeit im NS-Staat; http://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/geschichte/auslaendisch/begriffe/index.html; Stand Mai 2013
(2) Archiv der Stadt Bietigheim-Bissingen: Blätter zur Stadtgeschichte, Heft 14 (1999), S. 212
(3) Archiv der Stadt Bietigheim-Bissingen: Zwangsarbeit in Bietigheim und Bissingen 1939 – 1945 (2003)
(4) Christine Axmann: Zwangsarbeit im Nationalsozialismus – Bedeutung und Funktionen des Durchgangslagers für „ausländische Arbeitskräfte“ in Bietigheim mit seinen Krankensammellagern in Pleidelsheim und Großsachsenheim; Magisterarbeit am Historischen Institut der Universität Stuttgart, 2004
(5) Christine Axmann „Das Durchgangslager für ‚ausländische Arbeitskräfte in Bietigheim, 1942 – 1945“, Vortrag vor dem Geschichtsverein Bietigheim-Bissingen im Juni 2003
(6a) Amelie Fried: „Schuhhaus Pallas. Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte“; München 2008
(6b) Lebenslauf Dr. Karl Schubert; Ita Wegman Institut; http://www.wegmaninstitut.ch/schubert-archiv.html Stand Mai 2013
(7) Schreiben von Dr. Regine Heubaum, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vom 4. Juni 2013
(8) Paul Sauer im Auftrag der Archivdirektion Stuttgart: „Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 – 1945“, II. Teil; Stuttgart 1966
(9) Institut Theresienstädter Initiative: „Theresienstädter Gedenkbuch“, Prag 2000; Vertrieb in Deutschland: Metropol Verlag Berlin
(10a) Karl-Heinz Rueß, Jüdisches Museum Göppingen: „Die Deportation der Göppinger Juden“ (2001)
(10b) Saul Friedländer: „Das Dritte Reich und die Juden“; Nördlingen 2006
(11) Steffen Pross: „Februar 1945: Letzter Halt Theresienstadt“, Ludwigsburger Kreiszeitung 27. Januar 2009
(12) Christine Axmann, Magisterarbeit (s.o.)